Kultur

Sanktions-Illusion: Wie Europas Milliarden Russlands Kriegsmaschine weiter schmieren – eine Analyse

Die gestrige Diskussion bei Markus Lanz hat es wieder einmal auf den Punkt gebracht: Die westlichen Sanktionen gegen Russland, insbesondere im Energiesektor, sind ein löchriges Konstrukt, das Moskau geschickt zu umgehen weiß. Während an der Oberfläche der politische Wille zur Schwächung des Kremls beschworen wird, sickern hinter den Kulissen weiterhin hunderte Milliarden Euro für Öl und Gas über raffinierte Umwege nach Russland. Es ist eine bittere Pille für Europa, das sich in einem moralischen und wirtschaftlichen Dilemma gefangen sieht. Doch wie funktioniert dieses System der Umgehung, und wer sind die Profiteure? Eine schonungslose Bestandsaufnahme.

Der Anspruch: Russlands Geldhahn zudrehen

Seit Februar 2022 hat die Europäische Union (und mit ihr die G7-Staaten) eine beispiellose Anzahl von Sanktionspaketen gegen Russland verabschiedet. Das erklärte Ziel: die finanziellen Mittel des Kremls zur Kriegsführung drastisch zu beschneiden, den Zugang zu westlicher Technologie zu kappen und die russische Wirtschaft nachhaltig zu schwächen. Im Fokus standen dabei von Anfang an die Haupteinnahmequellen Russlands: der Export von Öl und Gas.

Die Maßnahmen waren vielfältig:

Einfuhrverbote: Ein Verbot für den Import von russischem Rohöl auf dem Seeweg in die EU trat im Dezember 2022 in Kraft, gefolgt von einem Verbot für russische Ölprodukte im Februar 2023.

Preisobergrenze (Oil Price Cap): Die G7, die EU und Australien einigten sich auf eine Preisobergrenze von 60 US-Dollar pro Barrel für russisches Rohöl, das auf dem Seeweg transportiert wird. Dienstleistungen wie Transport, Versicherung und Finanzierung sind westlichen Unternehmen nur dann erlaubt, wenn das Öl unterhalb dieser Grenze verkauft wird.

Reduktion der Gasimporte: Obwohl es kein vollständiges EU-weites Gasembargo gibt (aufgrund der Abhängigkeit einiger Mitgliedsstaaten), haben viele Länder ihre Importe russischen Pipeline-Gases drastisch reduziert oder ganz eingestellt, teils durch russische Lieferstopps erzwungen, teils durch eigene Bemühungen.

Finanzsanktionen: Ausschluss wichtiger russischer Banken aus dem SWIFT-System, Einfrieren von Vermögenswerten der russischen Zentralbank und von Oligarchen.

Die Hoffnung war, dass diese Maßnahmen Russland empfindlich treffen würden. Und anfänglich gab es auch deutliche Effekte: Die russische Wirtschaft schrumpfte 2022, die Inflation stieg, und der Rubel geriet unter Druck. Doch der Kreml zeigte sich widerstandsfähig und anpassungsfähig.

Die Realität: Die Umwege der Milliarden – Ein florierendes Schattennetzwerk

Die Behauptung, dass weiterhin hunderte Milliarden Euro aus Europa nach Russland fließen, mag auf den ersten Blick übertrieben klingen, da direkte Zahlungen für Rohöl und Pipelinegas stark gesunken sind. Die Wahrheit ist jedoch komplexer und liegt in den „Umwegen“ und den globalen Marktmechanismen.

Die Schattenflotte und die Umgehung des Preisdeckels:

Russland hat eine riesige „Schattenflotte“ von Tankern aufgebaut oder gechartert, die oft älter sind, unter fragwürdigen Flaggen fahren und schwer nachzuverfolgende Eigentümerstrukturen haben. Diese Tanker operieren außerhalb der Reichweite westlicher Versicherer und Finanzierer.

Ship-to-Ship-Transfers: Öl wird auf hoher See von einem Tanker auf einen anderen umgeladen, um die Herkunft zu verschleiern.

Falsche Dokumentation: Atteste über den Kaufpreis werden gefälscht, um formal unter der 60-Dollar-Grenze zu bleiben, auch wenn der tatsächliche Preis höher liegt.

Nicht-westliche Dienstleister: Russland nutzt zunehmend Versicherungen und Finanzdienstleistungen aus Ländern, die sich den Sanktionen nicht angeschlossen haben (z.B. China, Indien, Vereinigte Arabische Emirate). Die Folge: Ein Großteil des russischen Öls wird deutlich über dem Preisdeckel verkauft. Die Einnahmen sprudeln weiter, wenn auch mit höheren Transport- und Versicherungskosten für Russland.

Die Rolle der Drittstaaten – Raffinerien als Drehscheiben:

Dies ist der entscheidende „Umweg“, über den Europa indirekt weiterhin russisches Öl konsumiert und bezahlt:

Indien, China, Türkei, VAE: Diese Länder haben ihre Importe von billigem russischem Rohöl massiv gesteigert. Sie verarbeiten dieses Rohöl in ihren Raffinerien zu Diesel, Benzin, Kerosin und anderen Ölprodukten.

Re-Export nach Europa: Genau diese Ölprodukte – nun mit dem Label „Made in India“ oder „Made in Turkey“ – werden dann legal und zu Weltmarktpreisen nach Europa exportiert. Europäische Unternehmen kaufen diese Produkte, da sie nicht mehr als „russisch“ gelten. Technisch gesehen kauft Europa also kein russisches Rohöl mehr direkt, aber es kauft Produkte, die aus russischem Rohöl hergestellt wurden. Die Wertschöpfung der Raffinierung verbleibt zwar im Drittstaat, aber Russland hat sein Rohöl erfolgreich verkauft und Einnahmen generiert. Schätzungen zufolge hat Russland allein 2023 über 100 Milliarden US-Dollar mit Ölexporten eingenommen, ein signifikanter Teil davon landete indirekt über diesen Mechanismus auf dem europäischen Markt.

LNG – Das schmutzige Gasgeschäft geht weiter:

Während die Pipeline-Gasimporte aus Russland nach Europa stark gesunken sind, ist der Import von russischem Flüssigerdgas (LNG) paradoxerweise sogar gestiegen. Länder wie Frankreich, Spanien und Belgien gehören zu den größten Abnehmern von russischem LNG.

Langfristige Verträge: Bestehende Verträge sind oft schwer zu kündigen.

Fehlende EU-weite Sanktionen: Es gibt kein umfassendes EU-Embargo gegen russisches LNG. Einige Länder haben nationale Pläne zum Ausstieg, aber das braucht Zeit. Novatek, der größte russische LNG-Produzent, profitiert davon erheblich. Jeder Tanker, der in europäischen Häfen anlegt, spült Millionen in die russische Staatskasse.

Parallelimporte und technologische Schlupflöcher:

Auch bei sanktionierten Gütern und Technologien hat Russland Wege gefunden, diese über Drittstaaten zu beschaffen. Länder in Zentralasien (Kasachstan, Kirgisistan), im Kaukasus (Armenien, Georgien) sowie die Türkei und China dienen als Drehkreuze für sogenannte Parallelimporte. Westliche Waren werden legal in diese Länder exportiert und von dort nach Russland weiterverkauft. Dies betrifft Mikrochips, Maschinen, Fahrzeuge und andere Güter, die auch für die Rüstungsindustrie relevant sind.

Die neuen Beziehungen: Russlands strategische Neuausrichtung:

Angesichts der westlichen Sanktionen hat Russland seine wirtschaftlichen und politischen Beziehungen neu ausgerichtet und intensiviert:

China: Peking ist zum wichtigsten Handelspartner Moskaus aufgestiegen. Russland liefert Öl und Gas zu vergünstigten Konditionen, China liefert im Gegenzug Industriegüter, Fahrzeuge und zunehmend auch Komponenten, die militärisch nutzbar sind („dual-use“). Der Handel wird vermehrt in Yuan und Rubel abgewickelt, um den US-Dollar zu umgehen.

Indien: Wie erwähnt, ein Hauptabnehmer für russisches Öl. Die Bezahlung erfolgt teilweise in Rupien oder über Tauschgeschäfte, was die Abhängigkeit vom westlichen Finanzsystem reduziert.

Iran und Nordkorea: Diese ebenfalls stark sanktionierten Staaten sind zu wichtigen Lieferanten für militärische Güter (Drohnen, Artilleriemunition) geworden. Im Gegenzug liefert Russland möglicherweise Technologie oder Rohstoffe.

BRICS+ und der „Globale Süden“: Russland versucht aktiv, einflussreiche Länder des „Globalen Südens“ (Brasilien, Südafrika etc.) auf seine Seite zu ziehen und die Sanktionen als neokoloniales Instrument des Westens darzustellen. Die Erweiterung der BRICS-Gruppe (u.a. um Iran, VAE, Ägypten, Äthiopien) stärkt diese alternative Machtachse.

Diese neuen und vertieften Partnerschaften bieten Russland nicht nur wirtschaftliche Absatzmärkte und Bezugsquellen, sondern auch politische Rückendeckung und die Möglichkeit, die internationale Isolation zu durchbrechen.

Die unbequeme Wahrheit für Europa:

Indirekte Kriegsfinanzierung: Auch wenn es schmerzt, es auszusprechen: Solange Europa raffinierte Ölprodukte kauft, die aus russischem Rohöl hergestellt wurden, und solange LNG aus Russland importiert wird, fließt Geld in Putins Kriegskasse. Die Summen sind erheblich und helfen, das russische Staatsbudget zu stabilisieren.

Moralisches Versagen und Glaubwürdigkeitsverlust: Die Diskrepanz zwischen den vollmundigen politischen Erklärungen und der Realität der fortgesetzten (indirekten) Wirtschaftsbeziehungen untergräbt die Glaubwürdigkeit des Westens.

Wirtschaftliche Kosten für Europa: Die Umstellung weg von billigen russischen Energieträgern hat in Europa zu höheren Energiepreisen und Inflation beigetragen. Die Suche nach alternativen Lieferanten und der Aufbau neuer Infrastrukturen ist kostspielig und zeitaufwendig.

Sanktionen als stumpfes Schwert?: Die Erfahrung zeigt, dass ein entschlossenes und gut vernetztes Regime wie Russland immer Wege finden wird, Sanktionen zumindest teilweise zu umgehen, solange es willige Partner auf der Welt gibt. Sanktionen allein können einen Krieg nicht beenden, wenn nicht alle globalen Akteure an einem Strang ziehen.

Was ist zu tun? Die Forderung nach echter Härte

Die Situation erfordert eine Neubewertung und Verschärfung der Strategie:

Schließung der Raffinerie-Schlupflöcher: Sekundärsanktionen gegen Drittstaaten, die im großen Stil russisches Rohöl verarbeiten und die Produkte nach Europa exportieren, wären ein harter, aber möglicherweise notwendiger Schritt. Dies würde jedoch zu diplomatischen Verwerfungen führen. Eine andere Möglichkeit wäre eine Nachverfolgung der Herkunft von Ölprodukten bis zum Rohöl (was technisch anspruchsvoll, aber nicht unmöglich ist).

Vollständiges LNG-Embargo: Ein EU-weites, konsequentes Verbot für den Import von russischem LNG ist überfällig. Die Abhängigkeiten sind hier geringer als beim Pipelinegas und die Alternativen auf dem Weltmarkt verfügbar, wenn auch teurer.

Verstärkte Kontrolle und Durchsetzung: Die Überwachung der Preisobergrenze muss intensiviert, die Schattenflotte stärker ins Visier genommen und Verstöße konsequenter geahndet werden. Dies erfordert eine bessere internationale Koordination.

Druck auf Drittstaaten erhöhen: Diplomatische und wirtschaftliche Anreize (oder Druckmittel) müssen genutzt werden, um Länder wie die Türkei, Indien oder Kasachstan davon abzuhalten, als Umgehungsdrehscheiben für Russland zu fungieren.

Langfristige Energieunabhängigkeit: Der Ausbau erneuerbarer Energien und die Diversifizierung der Energiequellen müssen mit Hochdruck vorangetrieben werden, um die generelle Abhängigkeit von autokratischen Regimen zu reduzieren.

Fazit: Schluss mit der Selbsttäuschung!

Die Diskussion bei Markus Lanz hat erneut den Finger in die Wunde gelegt. Die bisherigen Sanktionen haben Russland zwar geschadet, aber nicht in dem Maße, wie erhofft. Der Kreml hat sich als erstaunlich anpassungsfähig erwiesen und profitiert weiterhin von massiven Einnahmen aus dem Energieexport, auch weil Europa durch den Import von verarbeiteten Produkten und LNG indirekt weiterzahlt.

Es ist an der Zeit, die Selbsttäuschung zu beenden. Wenn der Westen es ernst meint mit der Unterstützung der Ukraine und der Schwächung der russischen Kriegsmaschinerie, dann müssen die Sanktionen endlich wasserdicht gemacht und die Umgehungsmechanismen konsequent bekämpft werden. Das erfordert mutige politische Entscheidungen, auch wenn sie kurzfristig schmerzhaft sein mögen. Andernfalls bleibt die Rede vom „Zudrehen des Geldhahns“ eine leere Phrase, während Europas Milliarden – über viele unappetitliche Umwege – weiter Öl ins Feuer des russischen Angriffskrieges gießen. Die Nerds und kritischen Beobachter von nerdswire.de werden die faulen Kompromisse und die technologischen Katz-und-Maus-Spiele weiterhin genauestens analysieren. Es steht viel auf dem Spiel – nicht zuletzt die eigene Glaubwürdigkeit und der Frieden in Europa und überall. .

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