Alarmglocken in Budapest – Europas Grundwerte auf dem Prüfstand
Budapest, Mai 2025. Wieder einmal sendet Ungarn unter Viktor Orbán Schockwellen durch die Europäische Union. Ein neuer Gesetzentwurf, euphemistisch als „Gesetz über die Transparenz des öffentlichen Lebens“ bezeichnet, droht, die letzten Bastionen unabhängigen Journalismus und kritischer Zivilgesellschaft im Land endgültig zu schleifen. Beobachter und Menschenrechtsorganisationen sind alarmiert: Das Gesetz ähnelt auf erschreckende Weise Russlands berüchtigtem „Ausländische-Agenten-Gesetz“ und könnte einen fatalen Präzedenzfall innerhalb der EU schaffen. Für Nerds, Tech-Enthusiasten und Verfechter der Informationsfreiheit ist dies mehr als nur eine politische Randnotiz – es ist ein Angriff auf die Grundfesten einer offenen, digitalen Gesellschaft.
Die „Souveränitätsschutz“-Offensive: Ein Gesetz als Maulkرب
Im Zentrum der neuen Repressionswelle steht ein Gesetzesentwurf, eingebracht um den 13./14. Mai 2025 von einem Abgeordneten der regierenden Fidesz-Partei. Das erklärte Ziel: der Schutz der nationalen Souveränität. Doch Kritiker sehen darin einen kaum verhohlenen Versuch, jegliche Form von unabhängiger Kontrolle und Kritik zum Schweigen zu bringen.
Das Herzstück des Gesetzes ist die weitere Stärkung und Bevollmächtigung des bereits Ende 2023 eingerichteten „Souveränitätsschutzamtes“ (SPO). Geleitet wird diese Behörde von Tamás Lánczi, einem ehemaligen Redenschreiber Orbáns, was bereits tief blicken lässt. Die Befugnisse des SPO sollen drastisch erweitert werden:
- Identifizierung und Stigmatisierung: Organisationen (Medienhäuser, NGOs), die Gelder aus dem Ausland erhalten – und dazu können auch EU-Fördermittel zählen – können vom SPO untersucht und als „Gefahr für die nationale Souveränität“ gebrandmarkt werden.
- Überwachung und Einschüchterung:
- Betroffene Organisationen sollen auf eine staatlich geführte Schwarze Liste gesetzt werden.
- Ihre Führungskräfte, Gründer und Vorstandsmitglieder sollen zu „politisch exponierten Personen“ (PEPs) erklärt werden. Dies unterwirft sie einer verschärften Überwachung, inklusive detaillierter Vermögenserklärungen und potenzieller Steuerprüfungen – ein klassisches Instrument zur Drangsalierung.
- Das SPO könnte weitreichende Befugnisse erhalten, um Redaktionsräume zu durchsuchen und auf Dokumente sowie Computerdateien zuzugreifen, notfalls mit polizeilicher Unterstützung.
- Banken sollen verpflichtet werden, die Finanztransaktionen gelisteter Organisationen zu überwachen und Informationen an die Behörden weiterzugeiten.
- Finanzielle Austrocknung und Vernichtung:
- Die betroffenen Medien und NGOs würden ihre Berechtigung verlieren, Spenden aus dem 1%-Einkommensteuer-Programm in Ungarn zu erhalten, eine wichtige Einnahmequelle.
- Ausländische Finanzierung wäre nur noch mit vorheriger Genehmigung der Steuerbehörde möglich.
- Bei Verstößen drohen drakonische Strafen, die bis zum 25-fachen des erhaltenen Betrags reichen können. Wiederholte Verstöße könnten zur Auflösung der Organisation führen.
Dieses Maßnahmenpaket zielt offensichtlich darauf ab, unabhängige Akteure erst zu diskreditieren, dann finanziell auszubluten und schließlich mundtot zu machen. Der „Chilling Effect“ – die Selbstzensur aus Angst vor Repressalien – dürfte enorm sein.
Déjà-vu: Putins Blaupause für die EU?
Zahlreiche internationale Organisationen wie Human Rights Watch (HRW), das International Press Institute (IPI) und das European Centre for Press and Media Freedom (ECPMF) ziehen einstimmig den Vergleich zu Russlands Gesetz über „ausländische Agenten“. Dieses Gesetz wurde systematisch genutzt, um die Zivilgesellschaft und unabhängige Medien in Russland zu zerschlagen. Dass nun ein EU-Mitgliedsstaat ein derartiges Instrumentarium einführt, wird als Tabubruch und Angriff auf die Kernwerte der EU – Pressefreiheit, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit – gewertet. Es wäre das erste Gesetz dieser Art innerhalb der Union.
Die Ironie: Während die EU versucht, sich gegen Desinformation und Einflussnahme von außen, insbesondere aus Russland, zu wehren, droht ein Mitgliedsstaat von innen heraus, autoritäre Informationskontrollmechanismen zu etablieren.
Orbáns langer Marsch gegen die Pressefreiheit: Ein System mit Methode
Dieser Gesetzentwurf ist kein isolierter Akt, sondern der vorläufige Höhepunkt einer mehr als zehnjährigen Kampagne der Fidesz-Regierung gegen die Medienfreiheit. Ungarn gilt laut IPI bereits als das EU-Land mit der schlechtesten Bewertung für Medienfreiheit. Das Modell der „Media Capture“ ist hier weit fortgeschritten:
- Kontrolle über öffentlich-rechtliche Medien: Diese sind längst zu Propagandakanälen der Regierung umfunktioniert worden.
- Kontrolle über Medienaufsichtsbehörden: Schlüsselpositionen sind mit loyalen Personen besetzt.
- Wirtschaftlicher Druck: Regierungsnahe Unternehmer haben große Teile des privaten Medienmarktes aufgekauft. Staatliche Werbegelder fließen fast ausschließlich an regierungsfreundliche Medien, während unabhängige systematisch benachteiligt werden.
- Verleumdungskampagnen: Das Souveränitätsschutzamt hat bereits vor diesem neuen Gesetz Verleumdungskampagnen gegen investigative Online-Portale geführt.
- Einschüchterung und Kriminalisierung: Journalisten sehen sich zunehmend mit Klagen und Behinderungen konfrontiert.
Der Zeitpunkt des neuen Gesetzes ist ebenfalls bezeichnend. Es wird vermutet, dass die Regierung Orbán, angesichts sinkender Zustimmungswerte im Inland und dem Risiko, die Wahlen 2026 zu verlieren, nun die Daumenschrauben anzieht, um kritische Stimmen im Vorfeld endgültig zum Schweigen zu bringen.
Der digitale Würgegriff: Technische und finanzielle Aspekte der Repression
Für ein „nerdiges“ Publikum sind die technischen und finanziellen Mechanismen dieses Gesetzes besonders aufschlussreich:
- Digitale Überwachung: Die potenziellen Befugnisse des SPO, auf Computerdateien in Redaktionen zuzugreifen, stellen eine massive Bedrohung für den Quellenschutz und die digitale Sicherheit von Journalisten dar. Dies könnte Whistleblower abschrecken und investigative Recherchen massiv erschweren.
- Datenbanken und Blacklisting: Die Schaffung staatlicher Schwarzer Listen erinnert an Praktiken autoritärer Regime zur Überwachung und Kontrolle von Bürgern und Organisationen.
- Finanzielle Strangulierung durch Transparenz-Vorwand: Die Koppelung von Finanzflüssen an staatliche Genehmigungen und die Androhung existenzvernichtender Strafen sind ein effektives Mittel, um unabhängigen Journalismus, der oft auf alternative Finanzierungsmodelle (Crowdfunding, internationale Grants) angewiesen ist, unmöglich zu machen. Die Bezeichnung „Transparenzgesetz“ ist hier reine Augenwischerei.
- PEP-Status als Waffe: Die Einstufung von Journalisten und NGO-Mitarbeitern als „politisch exponierte Personen“ ist eine Pervertierung eines Instruments, das eigentlich zur Bekämpfung von Korruption bei Politikern und Staatsfunktionären gedacht ist. Hier wird es zur Einschüchterung und potenziellen Kriminalisierung von Kritikern missbraucht.
Proteste und internationale Reaktionen: Ein Sturm der Entrüstung
Die Antwort auf den Gesetzesentwurf ließ nicht lange auf sich warten. Am 18. Mai 2025 demonstrierten Tausende Menschen in Budapest gegen die Pläne der Regierung. International ist die Verurteilung scharf:
- Menschenrechtsorganisationen: HRW, Amnesty International und andere warnen vor einer Aushöhlung der Demokratie.
- Pressefreiheitsorganisationen: Reporter ohne Grenzen (RSF), IPI, ECPMF und der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) haben das Gesetz scharf kritisiert und fordern die ungarische Regierung auf, es zurückzuziehen. Über 80 Chefredakteure führender europäischer Medien haben eine Petition unterzeichnet.
- Europäische Union:
- Das Europäische Parlament hat am 21./22. Mai 2025 eine Dringlichkeitsdebatte über „den Drift der ungarischen Regierung in Richtung einer Repression nach russischem Vorbild“ auf die Agenda gesetzt.
- Für den 27. Mai ist eine Debatte im Rat für Allgemeine Angelegenheiten über die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn angesetzt.
- Es werden erneut Forderungen laut, das Artikel-7-Verfahren gegen Ungarn voranzutreiben, das im äußersten Fall zum Entzug von Stimmrechten im EU-Rat führen kann.
Warum das Nerds und Europa angeht: Informationsfreiheit als Betriebssystem der Demokratie
Manch einer mag fragen: Was hat das ungarische Mediengesetz mit mir als technikaffine Person zu tun? Die Antwort ist: sehr viel.
- Integrität der Information: Eine freie und vielfältige Medienlandschaft ist die Basis für den Kampf gegen Desinformation und Propaganda. Wenn unabhängige Quellen zum Schweigen gebracht werden, entsteht ein Vakuum, das von staatlich kontrollierten Narrativen und Falschmeldungen gefüllt wird. In einer digital vernetzten Welt betrifft das nicht nur Ungarn.
- Digitale Rechte: Der Zugriff auf Server, die Überwachung von Kommunikation, die Erstellung von schwarzen Listen – all das sind Eingriffe in digitale Grundrechte, die jeden Bürger und jede Bürgerin beunruhigen sollten.
- Innovationsbremse: Ein Klima der Angst und Unterdrückung ist Gift für Innovation. Freier Informationsfluss und kritischer Diskurs sind auch für technologischen Fortschritt und eine lebendige Startup-Szene essenziell.
- Blaupause für andere?: Wenn ein solches Gesetz in einem EU-Land salonfähig wird, könnten andere autoritär gesinnte Regierungen folgen. Die Erosion demokratischer Standards ist oft ein schleichender Prozess mit Ansteckungsgefahr.
- Funktionsfähigkeit der EU: Die EU ist eine Wertegemeinschaft. Wenn ein Mitgliedsstaat diese Werte systematisch untergräbt, stellt das die Glaubwürdigkeit und Funktionsfähigkeit der gesamten Union in Frage.
Fazit: Düstere Aussichten und ein Weckruf für Europa
Die Lage für unabhängigen Journalismus und die Zivilgesellschaft in Ungarn ist dramatisch. Der neue Gesetzesentwurf ist nicht weniger als ein Frontalangriff auf die Pressefreiheit und die demokratischen Grundprinzipien. Sollte dieses Gesetz in Kraft treten, droht Ungarn, sich weiter von den europäischen Werten zu entfernen und zu einem autoritären Staat innerhalb der EU zu entwickeln.
Die Proteste in Ungarn und die scharfen Reaktionen aus dem Ausland zeigen, dass der Widerstand wächst. Doch es bedarf eines geschlossenen und entschiedenen Handelns der Europäischen Union, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. Es geht nicht nur um Ungarn – es geht um die Zukunft der Demokratie und Informationsfreiheit in ganz Europa. Für alle, die an eine offene, informierte und digitale Gesellschaft glauben, ist dies ein Weckruf, die Stimme zu erheben. Die „Nerds“ dieser Welt, die oft an vorderster Front für Informationsfreiheit und gegen Zensur kämpfen, sollten diese Entwicklungen mit größter Aufmerksamkeit verfolgen. Denn ein Angriff auf die freie Presse an einem Ort ist ein Angriff auf die Freiheit überall.