Im Schatten der Playlists: Die Kontroverse um „Ghost Artists“ und Spotifys Rolle im Streaming-Zeitalter

by 16. Mai 2025

 

Musik-Streaming hat die Art und Weise, wie wir Musik konsumieren und wie Künstler potenziell entlohnt werden, revolutioniert. An der Spitze dieser Revolution steht Spotify, der weltweit größte Musik-Streaming-Dienst. Mit Millionen von Titeln und Playlists, die auf die individuellen Hörgewohnheiten zugeschnitten sind, hat Spotify das Musikerlebnis für viele neu definiert. Doch der Erfolg des Streaming-Modells wird zunehmend von Debatten über Fairness, Transparenz und die Verteilung der Einnahmen überschattet. Ein besonders brisanter Vorwurf, der immer wieder gegen Spotify erhoben wird, betrifft die angebliche Förderung sogenannter „Ghost Artists“ oder „Fake Artists“ und die Manipulation von Playlists, um die eigenen Ausgaben für Künstler-Tantiemen zu senken.

 

Die Vorwürfe, die unter anderem durch investigative Recherchen ans Licht der Öffentlichkeit gelangten, zeichnen das Bild eines Streaming-Riesen, der im Stillen ein System etabliert haben soll, das darauf abzielt, kostengünstige, generische Musik in den Vordergrund zu rücken. Kern dieser Anschuldigungen ist ein angebliches internes Programm namens „Perfect Fit Content“ (PFC). Dieses Programm soll darauf ausgerichtet sein, Musik zu priorisieren, die billig in der Produktion ist und nur minimale Tantiemen generiert.

 

Was sind „Ghost Artists“ im Streaming-Kontext?

 

Der Begriff „Ghost Artist“ oder „Fake Artist“ bezieht sich in diesem Zusammenhang nicht zwangsläufig auf komplett fiktive Personen oder computergenerierte Musik (obwohl KI-generierte Musik die Debatte in Zukunft weiter beeinflussen könnte). Vielmehr geht es um Musik, die oft von Musikproduktionsfirmen oder einer kleinen Gruppe von Musikern im Auftrag Dritter speziell für den Einsatz als Hintergrundmusik, Stimmungs-Soundtracks oder generische Füllmaterial für Playlists erstellt wird. Diese Musik wird dann unter einer Vielzahl von Pseudonymen oder Künstlernamen veröffentlicht, die kaum oder gar keine digitale Präsenz außerhalb von Spotify haben – keine offiziellen Websites, keine Social-Media-Profile, keine Tourdaten, keine Interviews. Diese „Künstler“ existieren primär oder ausschließlich als Einträge in Spotifys Datenbank.

 

Die Musik selbst wird oft als „Stock Music“ oder „Lounge Music“ beschrieben – instrumentale Stücke aus Genres wie Ambient, Jazz, Piano-Musik, Lo-Fi Hip-Hop oder generische Pop-Variationen, die darauf ausgelegt sind, eine bestimmte Stimmung zu erzeugen, ohne dabei die volle Aufmerksamkeit des Hörers zu beanspruchen. Sie ist perfekt geeignet für Playlists wie „Deep Focus“, „Chill Vibes“, „Relaxing Piano“ oder „Coffee Table Jazz“, die oft Millionen von Followern haben und von Nutzern gehört werden, während sie arbeiten, lernen, sich entspannen oder im Hintergrund.

 

Das „Perfect Fit Content“-Programm: Der Mechanismus der Anschuldigung

 

Die Anschuldigungen besagen, dass Spotify über das PFC-Programm gezielt mit Produktionsfirmen zusammenarbeitet, die diese Art von kostengünstiger Musik herstellen. Diese Firmen erhalten angeblich niedrigere Pauschalhonorare oder Lizenzgebühren pro Stream als traditionelle Künstler oder Labels, die Musik über herkömmliche Vertriebswege auf die Plattform bringen. Der entscheidende Vorwurf ist, dass Spotify dann intern darauf hinwirkt, diese PFC-Musik prominent auf seinen eigenen kuratierten Playlists zu platzieren.

 

Berichte legen nahe, dass Playlist-Editoren von Spotify angehalten oder sogar unter Druck gesetzt wurden, PFC-Songs in ihre Playlists aufzunehmen. Interne Teams, die mit dem PFC-Modell befasst sind, sollen Hunderte von Playlists betreut haben, von denen viele fast ausschließlich aus diesem kostengünstigen Content bestanden. Indem Spotify diese Musik auf hoch frequentierten Playlists platziert, generiert sie Millionen von Streams. Da die Lizenzgebühren für diese Streams angeblich deutlich niedriger sind als die für Musik von etablierten oder unabhängigen Künstlern, könnte Spotify auf diese Weise seine Ausgaben für Tantiemen insgesamt reduzieren und die eigene Profitabilität steigern.

 

Die Logik dahinter scheint aus der Perspektive einer Plattform, die bestrebt ist, die Kosten zu kontrollieren, nachvollziehbar zu sein. Musik-Streaming-Dienste zahlen den größten Teil ihrer Einnahmen (oft 70 % oder mehr) an die Rechteinhaber – Labels, Verlage, Vertriebe und letztlich die Künstler. Wenn ein Dienst einen signifikanten Teil der gestreamten Inhalte mit Musik füllen kann, für die er weniger pro Stream bezahlen muss, kann er seine Gewinnmargen erhöhen.

 

Die Auswirkungen auf echte Künstler und das Musik-Ökosystem

 

Die potenziellen Auswirkungen dieser Praktiken auf Künstler, insbesondere auf unabhängige Musiker, sind gravierend und bilden den Kern der Kritik:

 

Verdrängung aus Playlists: Wenn Spotify seine eigenen Playlists mit kostengünstigem PFC-Content füllt, bleibt weniger Platz für Musik von Künstlern, die über traditionelle Wege veröffentlicht haben und für deren Streams höhere Tantiemen gezahlt werden müssten. Playlists sind für viele Künstler eine der wichtigsten Möglichkeiten, entdeckt zu werden und Streams zu generieren. Eine Benachteiligung bei der Platzierung kann daher erhebliche Auswirkungen auf ihre Reichweite und ihr Einkommen haben.

Devaluierung von Musik: Die angebliche Bevorzugung von generischer, kostengünstiger „Hintergrundmusik“ könnte dazu beitragen, die Wahrnehmung von Musik als reines Konsumgut oder Füllmaterial zu verstärken, anstatt als kreative Kunstform, die Wert hat und für die Künstler angemessen entlohnt werden sollten. Dies könnte die Zahlungsbereitschaft für Musik außerhalb des Streaming-Modells weiter untergraben.

Mangelnde Transparenz: Das angebliche Vorgehen im Verborgenen, die Nutzung von Pseudonymen und die unklaren Verbindungen zwischen Spotify und den Produktionsfirmen, die PFC-Musik liefern, tragen zur mangelnden Transparenz in der Streaming-Landschaft bei und erschweren es Künstlern, zu verstehen, wie ihre Musik bewertet und vergütet wird.

Untergrabung des Streaming-Modells: Wenn das Geschäftsmodell eines Streaming-Dienstes teilweise darauf basiert, die Vergütung durch die Förderung von kostengünstigem Content zu minimieren, wirft dies Fragen nach der grundlegenden Fairness und Nachhaltigkeit des Modells für die Mehrheit der Musikschaffenden auf. Viele Künstler berichten ohnehin schon seit Langem, dass die Einnahmen aus Streaming pro Stream verschwindend gering sind und es extrem hohe Streamzahlen erfordert, um davon leben zu können.

Spotifys Position und die breitere Debatte über Streaming-Tantiemen

 

Spotify hat die spezifischen Vorwürfe bezüglich des „Perfect Fit Content“-Programms in ihrer Gänze Berichten zufolge nicht direkt kommentiert. Allerdings hat das Unternehmen in der Vergangenheit wiederholt vehement bestritten, „Fake Artists“ zu erstellen oder auf die Plattform zu bringen. Sie argumentieren, dass sie mit Produktionsfirmen zusammenarbeiten, um Musik für bestimmte Stimmungen und Aktivitäten bereitzustellen, für die eine Nachfrage bei den Nutzern besteht (z. B. zum Schlafen, Konzentrieren oder Entspannen). Sie betonen auch, dass sie Tantiemen für alle auf ihrer Plattform gestreamten Titel zahlen, unabhängig davon, wer der Rechteinhaber ist, und dass sie keine Musik „inhouse“ produzieren, um Tantiemen zu umgehen. Spotify verweist darauf, dass sie Milliarden von Dollar an die Musikindustrie (Rechteinhaber) ausgezahlt haben.

 

Diese Dementis stehen jedoch im Widerspruch zu den detaillierten Anschuldigungen, die von ehemaligen Mitarbeitern und investigativen Journalisten erhoben wurden. Kritiker halten entgegen, dass die Definition von „Fake Artist“ hier relevant ist. Auch wenn Spotify die Musik nicht direkt selbst produziert, so argumentieren sie, dass die gezielte Förderung von Musik unter Pseudonymen, die speziell für niedrige Tantiemen lizenziert wurde, im Wesentlichen dem gleichen Zweck dient wie die Schaffung von „Fake Artists“ – der Kostensenkung auf Kosten anderer Musikschaffender.

 

Die Debatte um „Ghost Artists“ ist eng verknüpft mit der breiteren Diskussion über die Funktionsweise des Musik-Streaming-Marktes und die Verteilung der Einnahmen. Das vorherrschende „Pro-Rata“-Modell, bei dem die gesamten Einnahmen eines Dienstes (aus Abonnements und Werbung) in einen Topf geworfen und dann basierend auf dem prozentualen Anteil der Streams jedes Künstlers an den Gesamtstreams verteilt werden, wird von vielen Künstlern als unfair empfunden. Sie argumentieren, dass dieses Modell vor allem Superstars und große Labels begünstigt, während kleinere und mittlere Künstler, selbst wenn sie eine treue Fangemeinde haben, nur winzige Beträge pro Stream erhalten. Alternative Modelle, wie das „User-Centric“ -Modell, bei dem die Abonnementgebühren der einzelnen Nutzer direkt an die Künstler verteilt werden, die dieser Nutzer tatsächlich gehört hat, werden als potenziell gerechter diskutiert, haben sich aber bisher nicht flächendeckend durchgesetzt.

 

Hinzu kommt die intransparente Kette der Geldflüsse in der Musikindustrie, bei der Streaming-Dienste einen Teil der Einnahmen an Labels, Verlage und andere Rechteinhaber zahlen, bevor die Gelder schließlich – oft nach Abzügen – bei den Künstlern ankommen. Die genauen Bedingungen dieser Verträge sind oft nicht öffentlich, was die Nachvollziehbarkeit für die Künstler erschwert.

 

Die Zukunft des Streamings und die Rolle von Algorithmen

 

Die Anschuldigungen gegen Spotify werfen auch ein Licht auf die wachsende Macht der Streaming-Plattformen als Gatekeeper und Kuratoren von Musik. Mit Millionen von Titeln ist die Auffindbarkeit für Künstler eine immense Herausforderung. Algorithmen und Playlists spielen eine entscheidende Rolle dabei, welche Musik gehört wird. Wenn die Kriterien für die Platzierung in Playlists oder die Empfehlungen des Algorithmus nicht nur auf musikalischem Verdienst oder der Beliebtheit bei den Nutzern basieren, sondern auch (oder vor allem) auf den Lizenzkosten für die Plattform, verschiebt sich das Kräfteverhältnis weiter zugunsten der Plattformbetreiber und auf Kosten der Musikschaffenden.

 

Einige Beobachter befürchten, dass die angebliche PFC-Strategie ein Vorbote für eine Zukunft ist, in der Musikstreaming-Dienste noch stärker auf generische, kostengünstige Musik setzen, möglicherweise sogar KI-generierte Inhalte in großem Umfang einsetzen, um die Abhängigkeit von teureren Lizenzverträgen mit Künstlern und Labels zu verringern. Dies könnte die Beziehung zwischen Künstlern und Zuhörern weiter entfremden und die wirtschaftlichen Herausforderungen für Musiker, die von ihrer Kunst leben wollen, verschärfen.

 

Schlussfolgerung: Mehr Transparenz und Fairness dringend benötigt

 

Die Vorwürfe gegen Spotify bezüglich der Förderung von „Ghost Artists“ und des PFC-Programms sind schwerwiegend und spiegeln tiefere strukturelle Probleme im Musik-Streaming-Markt wider. Auch wenn Spotify die Anschuldigungen in ihrer spezifischen Form bestreitet, deuten die Berichte und die anhaltende Debatte darauf hin, dass es einen Bedarf an größerer Transparenz darüber gibt, wie Musik auf den Plattformen kuratiert und monetarisiert wird.

 

Für die Zukunft des Musik-Ökosystems ist es entscheidend, dass faire Modelle gefunden werden, die es Künstlern ermöglichen, von ihrer Musik im Streaming-Zeitalter angemessen zu leben. Dies erfordert eine offene Diskussion über die Verteilung der Einnahmen, die Rolle von Plattformen als Kuratoren und die Notwendigkeit von klaren Regeln, die Manipulationen und unlautere Praktiken verhindern. Ob die Anschuldigungen in ihrer vollen Härte zutreffen oder nicht, die Debatte um „Ghost Artists“ ist ein wichtiges Symptom für die Spannungen in einer Branche im Umbruch und ein Weckruf für alle Beteiligten, sich für ein gerechteres und nachhaltigeres digitales Musik-Ökosystem einzusetzen. Die Glaubwürdigkeit von Streaming-Diensten wie Spotify hängt letztlich davon ab, ob es ihnen gelingt, das Vertrauen von Künstlern und Nutzern gleichermaßen zu gewinnen und zu erhalten.

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