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Zeitgefühl im Sport: Warum die Uhr beim Training manchmal kriecht (und wann sie fliegt)

Wer kennt es nicht? Manchmal scheint die Zeit beim Joggen, im Fitnessstudio oder bei der Yoga-Session wie im Flug zu vergehen, ein anderes Mal zieht sich jede Minute wie Kaugummi. Dieses subjektive Zeitempfinden ist ein faszinierendes Phänomen, das Wissenschaftler aus Psychologie, Neurowissenschaft und Sportwissenschaft seit Langem untersuchen. Die Frage, ob die Zeit beim Sport tatsächlich langsamer vergeht und welche Mechanismen dahinterstecken, ist nicht nur für Leistungssportler relevant, sondern betrifft jeden, der sich bewegt – egal ob jung oder alt. Nerdswire.de taucht ein in die komplexe Welt unserer inneren Uhr und wie körperliche Anstrengung sie beeinflusst.

Das Gefühl, dass die Zeit sich dehnt oder zusammenzieht, ist eine universelle menschliche Erfahrung. Während eines spannenden Fußballspiels oder beim vertieften Eintauchen in ein Videospiel scheint die Zeit oft zu rasen. Im Wartezimmer des Zahnarztes oder während einer als monoton empfundenen Aufgabe kann sie hingegen quälend langsam vergehen. Sport und körperliche Betätigung bilden hier keine Ausnahme und bieten ein besonders interessantes Forschungsfeld, da hier sowohl psychologische als auch physiologische Faktoren intensiv zusammenspielen.

Das Phänomen: Verlangsamt Sport tatsächlich unsere innere Uhr?

Die wissenschaftliche Literatur liefert tatsächlich zahlreiche Hinweise darauf, dass Menschen dazu neigen, Zeitintervalle während körperlicher Anstrengung als länger wahrzunehmen, als sie tatsächlich sind. Anders ausgedrückt: Ja, für viele fühlt es sich so an, als würde die Zeit beim Sport langsamer vergehen. Dies wurde in verschiedenen experimentellen Studien beobachtet, beispielsweise bei Tests auf dem Fahrradergometer oder während Krafttrainingseinheiten.

Professor Andrew Edwards, Leiter der School of Psychology and Life Sciences an der Canterbury Christ Church University, und Stein Menting, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ulster University, sind zwei der Forscher, die sich mit diesem Thema befasst haben. Ihre Studien, wie auch die anderer Wissenschaftler, deuten darauf hin, dass es sich hierbei nicht um eine reine Einbildung handelt, sondern um eine systematische Verzerrung unserer Zeitwahrnehmung unter Belastung.

Psychologische Zeitgeber: Die Rolle von Aufmerksamkeit und Motivation

Warum aber fühlt sich die Zeit unter Anstrengung oft länger an? Ein wichtiger Erklärungsansatz liegt in der Verteilung unserer mentalen Ressourcen, insbesondere der Aufmerksamkeit:

  • Gesteigerte Selbstwahrnehmung (Interozeption): Während intensiver körperlicher Betätigung, besonders wenn sie anstrengend wird, richten wir unsere Aufmerksamkeit verstärkt nach innen. Wir nehmen unseren Herzschlag, unsere Atmung, schmerzende Muskeln und andere körperliche Signale (Interozeption) bewusster wahr. Diese erhöhte Dichte an wahrgenommenen internen Ereignissen pro Zeiteinheit kann dazu führen, dass das Gehirn das betreffende Zeitintervall als länger interpretiert. Man spricht hier auch von einem „attentional gate model“, bei dem mehr Aufmerksamkeit auf interne oder externe Reize den „Durchfluss“ von Zeitpulsen zu einem kognitiven Zähler erhöht.
  • Motivation und emotionaler Zustand: Professor Philip Gable von der University of Delaware hat in seinen Forschungen gezeigt, dass unsere Motivation einen erheblichen Einfluss auf das Zeitgefühl hat.
    • Annäherungsmotivation (Approach Motivation): Sind wir intrinsisch motiviert, haben Spaß an der Aktivität oder verfolgen ein positives Ziel (z.B. ein junger Athlet, der im „Flow“ seines Spiels ist, oder ein älterer Mensch, der eine Wanderung in schöner Natur genießt), neigt die Zeit dazu, wie im Flug zu vergehen.
    • Vermeidungsmotivation (Avoidance Motivation): Erleben wir die Anstrengung jedoch als unangenehm, monoton oder fühlen uns gezwungen, eine Aktivität auszuführen, um etwas Negatives zu vermeiden (z.B. Schmerzen, Überforderung, Langeweile), dann tritt die Vermeidungsmotivation in den Vordergrund. In diesem Zustand neigt die Zeit dazu, sich quälend zu dehnen. Das Training wird zur Last, und jede Minute zählt doppelt.

Gerade für ältere Erwachsene, die vielleicht mit chronischen Schmerzen oder größerer Anstrengung bei bestimmten Übungen konfrontiert sind, kann diese vermeidungsgetriebene Zeitdehnung ein echtes Hindernis für die langfristige Trainingsmotivation darstellen. Umgekehrt können Kinder und Jugendliche, die sich in einem spielerischen Wettkampf völlig verlieren, oft kaum glauben, wie schnell die Trainingsstunde schon wieder vorbei ist.

Physiologische Einflüsse: Körpertemperatur, Erregung und die innere Uhr

Neben den psychologischen Aspekten spielen auch handfeste physiologische Veränderungen während des Sports eine Rolle für unser Zeitgefühl:

  • Arousal (Erregungsniveau): Körperliche Anstrengung erhöht unser physiologisches Erregungsniveau – Herzfrequenz, Blutdruck und die Ausschüttung von Stresshormonen wie Adrenalin und Noradrenalin steigen an. Die klassische „Internal Clock Theory“ (auch Pacemaker-Accumulator Model) postuliert, dass ein interner Schrittmacher Impulse abgibt, die von einem Akkumulator gezählt werden. Ein höheres Arousal-Niveau kann die Frequenz dieses internen Schrittmachers erhöhen, was dazu führt, dass in der gleichen objektiven Zeit mehr Impulse gezählt werden und das Zeitintervall subjektiv länger erscheint.
  • Körperkerntemperatur: Eine steigende Körperkerntemperatur, wie sie typischerweise bei längerer oder intensiverer Belastung auftritt, wird ebenfalls mit einer Beschleunigung des internen Zeitgebers in Verbindung gebracht.
  • Neurotransmitter: Dopamin, ein wichtiger Neurotransmitter für Motivation, Belohnung und auch Zeitwahrnehmung (insbesondere in den Basalganglien und im präfrontalen Kortex), wird durch Sport beeinflusst. Veränderungen im Dopaminhaushalt könnten somit ebenfalls zur Modulation des Zeitgefühls beitragen.

Diese physiologischen Veränderungen sind bei allen Altersgruppen zu beobachten, könnten aber je nach Fitnesslevel und Gesundheitszustand unterschiedlich stark ausgeprägt sein und somit auch das individuelle Zeitempfinden beim Sport modulieren.

Intensität, Dauer und Art der Übung: Nicht alles dehnt die Zeit gleich

Interessanterweise scheint nicht jede Art von sportlicher Betätigung die Zeitwahrnehmung in gleichem Maße zu beeinflussen:

  • Intensität: Einige Studien, wie die von Stein Menting erwähnte Untersuchung mit selbstbestimmter Trittfrequenz beim Radfahren, deuten darauf hin, dass die reine Anstrengungsempfindung nicht der alleinige Faktor ist. Es könnte sein, dass bereits die Tatsache, Sport zu treiben, an sich die Zeitwahrnehmung verändert. Andere Forschungen legen jedoch nahe, dass insbesondere sehr hohe, fest vorgegebene Intensitäten die Zeit stärker zu dehnen scheinen. Hier ist die Datenlage noch nicht ganz eindeutig und hängt vermutlich von der Art der Studie (selbstgesteuert vs. fremdgesteuert) ab.
  • Dauer: Bei sehr langen Ausdauereinheiten kann es zu unterschiedlichen Phasen der Zeitwahrnehmung kommen. Anfangs mag die Zeit langsam vergehen, doch bei Erreichen eines „Flow-Zustands“ oder durch Ablenkung (Musik, Landschaft) kann sie dann wieder schneller empfunden werden. Gegen Ende, bei starker Erschöpfung, kann sie sich erneut dehnen.
  • Art der Übung:
    • Monotone vs. abwechslungsreiche Aktivitäten: Repetitive, monotone Übungen (z.B. auf dem Laufband ohne Ablenkung) führen eher zu einer Zeitdehnung als spielerische, abwechslungsreiche Sportarten (z.B. Teamsport, Tanzen).
    • Achtsame Bewegung: Praktiken wie Yoga oder Tai Chi, die einen starken Fokus auf Körperwahrnehmung und den gegenwärtigen Moment legen, könnten das Zeitempfinden auf eigene Weise beeinflussen, möglicherweise indem sie die Aufmerksamkeit stark binden und so die Zeit entweder als sehr präsent oder als nebensächlich erscheinen lassen.

Zeitgefühl im Wandel der Lebensalter: Von spielerischer Versunkenheit bis zur bewussten Zeiteinteilung

Die Live Science-Quelle ging nicht direkt auf Altersunterschiede ein, aber die allgemeine Forschung zur Zeitwahrnehmung liefert wichtige Anknüpfungspunkte:

  • Kinder und Jugendliche: Kinder haben oft ein anderes, weniger rigides Zeitkonzept. Beim Spielen oder sportlichen Aktivitäten, die ihnen Spaß machen, können sie völlig in der Gegenwart versinken („Flow“), wodurch die Zeit subjektiv sehr schnell vergeht. Dies ist oft positiv für die Motivation. Andererseits können als langweilig oder überfordernd empfundene Übungen dazu führen, dass die Zeit für sie quälend langsam wird, was die Freude am Sport schmälern kann. Pädagogisch ist es hier wichtig, den Spaßfaktor hochzuhalten.
  • Junge bis mittlere Erwachsene: In dieser Lebensphase sind sportliche Ziele oft leistungsorientiert oder dienen dem Stressabbau. Das Zeitempfinden kann stark von der Tagesform, der Motivation und der Art des Trainings abhängen. Das Wissen um die Mechanismen der Zeitverzerrung kann helfen, Trainingspläne realistischer zu gestalten und Motivationslöcher zu überwinden.
  • Ältere Erwachsene: Mit zunehmendem Alter gibt es Hinweise darauf, dass die „innere Uhr“ generell etwas schneller zu ticken scheint, d.h. Zeitabschnitte werden eher kürzer eingeschätzt als von jungen Menschen. Beim Sport könnten jedoch Faktoren wie erhöhte Aufmerksamkeit auf Körpersignale, potenzielle Schmerzen oder die Sorge vor Überlastung dazu führen, dass die Zeit sich dennoch dehnt. Eine positive Einstellung, die Freude an der Bewegung und das Setzen realistischer, erreichbarer Ziele sind hier besonders wichtig, um einer negativen Zeitwahrnehmung und damit sinkender Motivation entgegenzuwirken. Zudem kann eine genaue Zeiteinteilung für Medikamenteneinnahme oder Ruhephasen nach dem Sport relevanter werden.

Eine andere Studie z. Beispiel diskutierte beispielsweise altersbedingte Unterschiede in der prospektiven Zeitwahrnehmung und die Rolle kognitiver Ressourcen, was auch Implikationen für das Zeitempfinden bei komplexeren Aufgaben wie Sport haben könnte.

Praktische Implikationen: Die Zeit zum Verbündeten machen

Das Wissen um die Verzerrung der Zeitwahrnehmung beim Sport hat praktische Konsequenzen:

  • Für Athleten: Ein verzerrtes Zeitgefühl kann die Pace-Kontrolle erschweren. Mentale Strategien zur Fokussierung oder auch der bewusste Einsatz von Uhren und Timern können helfen, im richtigen Tempo zu bleiben.
  • Für Freizeitsportler aller Altersgruppen:
    • Timer nutzen: Philip Gable rät, bei sehr intensivem Training einen Timer zu stellen, um sicherzustellen, dass man die geplante Dauer auch wirklich durchhält und sich nicht von einem gedehnten Zeitgefühl täuschen lässt.
    • Auf den Körper hören und anpassen: Wenn sich die Zeit beim Training ständig wie Kaugummi anfühlt, ist das ein starkes Indiz dafür, dass die Aktivität als unangenehm oder überfordernd (Vermeidungsmotivation) empfunden wird. Hier gilt es, die Intensität anzupassen, eine andere Sportart auszuprobieren oder für mehr Abwechslung und Spaß zu sorgen. Das Ziel sollte ein nachhaltiges Training sein, das Freude bereitet.
    • Ablenkung und Flow: Angenehme Musik, eine interessante Podcast-Folge, das Training mit Freunden oder die Konzentration auf die schöne Umgebung (beim Outdoor-Sport) können helfen, die Aufmerksamkeit von der reinen Anstrengung abzulenken und in einen Flow-Zustand zu gelangen, in dem die Zeit schneller zu vergehen scheint.

Fazit: Die subjektive Zeit – ein formbarer Begleiter im Sport

Unsere Wahrnehmung von Zeit ist keine feste Konstante, sondern ein dynamischer Prozess, der von einer Vielzahl psychologischer und physiologischer Faktoren beeinflusst wird. Körperliche Anstrengung scheint dabei oft zu einer subjektiven Dehnung der Zeit zu führen, insbesondere wenn die Aktivität als anstrengend oder unangenehm empfunden wird. Mechanismen wie erhöhte Aufmerksamkeit auf Körpersignale, das physiologische Arousal-Niveau und motivationale Aspekte spielen hierbei eine entscheidende Rolle. Für alle Altersgruppen, von Kindern bis zu Senioren, gilt: Das Verständnis dieser Zusammenhänge kann helfen, das Training angenehmer und effektiver zu gestalten und die Motivation langfristig aufrechtzuerhalten. Indem wir lernen, unsere innere Uhr und ihre Eigenheiten besser zu verstehen, können wir die Zeit beim Sport vielleicht nicht immer zum Rasen, aber doch zu einem angenehmeren Begleiter machen. Die Forschung auf diesem Gebiet ist bei Weitem nicht abgeschlossen und verspricht weiterhin spannende Einblicke in das Zusammenspiel von Körper, Geist und Zeit.

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