Hannover (dpa/lni) – Greenpeace-Aktivisten haben mit einer spektakulären Protestaktion am niedersächsischen Landtag die geplante Gasförderung in der Nordsee kritisiert und gleichzeitig eine neue Sicherheitsdebatte ausgelöst. Am frühen Mittwochmorgen kletterten mehrere Aktivisten auf das Dach des Landtags und ließen riesige schwarz-gelbe Protestbanner herab. Die Polizei war mit einem Großaufgebot im Einsatz und beendete die Aktion nach etwa sieben Stunden mit Hilfe eines Spezialeinsatzkommandos (SEK).
„Die Personen konnten sicher runtergeholt werden“, sagte eine Polizeisprecherin. Weder Polizisten noch Aktivisten seien bei dem Einsatz verletzt worden. Die Beamten hätten die Identitäten der Aktivisten festgestellt und Platzverweise ausgesprochen, allerdings sei niemand in Gewahrsam genommen worden.
Gegen mindestens 20 Personen, die auf dem Dach waren und an der Fassade hingen, werde wegen Hausfriedensbruchs ermittelt. Zudem laufe ein Verfahren wegen einer nicht angezeigten Versammlung.
Die für den Tag geplante Landtagssitzung begann trotz der Aktion pünktlich. Landtagspräsidentin Hanna Naber (SPD) erklärte zu Beginn, die Polizei werde „alles Erforderliche tun, um die Aktion zeitnah zu beenden“. Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) wollte sich hingegen nicht zu dem Protest äußern und verwies lediglich auf den Landtag.
CDU-Fraktionschef Sebastian Lechner brachte eine Wiedereinführung der Bannmeile am Landtag ins Spiel. „Wenn Straftäter das Dach des hohen Hauses besetzen und ein Banner um das Gebäude spannen, dann hat das nichts mehr mit normalen Demonstrationen zu tun, es stellt eine Straftat dar und muss unterbunden werden“, teilte Lechner mit. Es stelle sich die Frage, ob die Abgeordneten sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ohne Bannmeile ausreichend geschützt sind.
Eine Bannmeile für spontane Demonstrationen hatte es in Hannover bis 2017 schon einmal gegeben. In einer Zone rund um das Leineschloss mussten Demos damals vom Landtagspräsidenten genehmigt werden. Unter der damaligen rot-grünen Landesregierung wurde das jedoch beendet.
Landtagsvizepräsidentin Meta Janssen-Kucz zeigte indes Verständnis für den Protest. „Wir haben keine Bannmeile, und gerade solche Aktionen sind auch notwendig, um den Fokus darauf zu legen, was vor der Insel Borkum im Gange ist, was dort in Sachen Klimaschutz und Umweltschutz einfach notwendig ist. Und das heißt: Stopp der Erdgasförderung. Wir haben so wenig Nutzen davon“, sagte die Grünen-Politikerin, die ihren Wahlkreis in Leer/Borkum hat. Sie betonte, die Aktivisten seien nicht in den Landtag eingedrungen: „Von daher ist das für mich eine friedliche, legitime Protestform.“
Umweltminister Christian Meyer (Grüne) sicherte den Aktivisten zu, dass der Umweltschutz bei der geplanten Gasförderung vor Borkum höchste Priorität habe. Diese Haltung sei auch im Koalitionsvertrag der Grünen mit der SPD festgehalten. „Das ist keinerlei Blankoscheck für die Gasförderung“, sagte Meyer. „Es läuft das Verfahren. Es ist noch keine Genehmigung erteilt.“
Auch Wirtschaftsminister Olaf Lies (SPD) erklärte, entscheidend sei die fachliche Einschätzung, ob die Gasförderung schützenswerte Natur oder die Insel beeinträchtige. In dem Fall könne die Förderung dort nicht stattfinden. Grundsätzlich werde Erdgas jedoch auch vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs noch für die Energieversorgung benötigt. „Ein Stück weit habe ich das Gefühl, in der Gesellschaft entsteht der Eindruck, wir haben gar kein Problem mehr. Doch wir laufen mitten in das nächste Problem rein, den nächsten Winter. Deswegen müssen wir die Gasversorgung sicherstellen“, sagte Lies.
Die mögliche Förderung vor Borkum könne zwar nur einen Bruchteil der Gasversorgung Deutschlands abdecken. In Summe mit weiteren Gasprojekten könne sie aber zur Versorgungssicherheit beitragen. Lies kritisierte zudem das Vorgehen von Greenpeace. „Den Landtag mit Bannern zu versehen, geht aus meiner Sicht einen Schritt zu weit, weil ich finde, da bedarf es auch eines gewissen Respekts dem Parlament gegenüber“, sagte Lies.
In den Hintergrund rückte wegen des Protests die Verabschiedung eines zweiten Nachtragshaushalts: Mit den Stimmen von SPD und Grünen beschloss der Landtag, für das laufende Jahr weitere 776 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen. Damit werde die entschlossene Krisenbewältigung der Regierung fortgesetzt, sagte Finanzminister Gerald Heere (Grüne). CDU und AfD stimmten gegen den Nachtragshaushalt, der unter anderem aus zusätzlichen Steuereinnahmen und Bundesmitteln finanziert werden soll.
Fast die Hälfte der 776 Millionen Euro soll an die Kommunen gehen, etwa für die Aufnahme von Flüchtlingen. Der Bildungsbereich soll unter anderem mit 12 Millionen Euro für die sogenannten Sprachkitas profitieren, deren Bundesförderung Ende Juni ausläuft. Außerdem sollen Polizisten und Feuerwehrleute von Juli an mehr Geld bekommen, und das Schulgeld für einige Ausbildungsberufe soll entfallen. Vor allem pharmazeutisch-technische Berufe und die Heilerziehungspflege sollen dadurch attraktiver werden.
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