Die unsichtbare Gefahr der Umweltverschmutzung wird immer präsenter. Mikroplastik verseucht unsere Meere, unsere Böden und landet unweigerlich in unserer Nahrungskette und unseren Körpern. Doch wer trägt die Verantwortung für diese omnipräsente Kontamination? Kann man Verursacher erfolgreich verklagen, insbesondere wenn die Quellen diffus und die Schäden schwer zuzuordnen sind? Ein Deep Dive in die aktuelle Rechtslage, wissenschaftliche Erkenntnisse und einen brisanten Fall, der kürzlich in Hamm verhandelt wurde.
Das Problem: Mikroplastik – Die unsichtbare Invasion vom Meer in den Menschen
Mikroplastik – diese winzigen Kunststoffpartikel, definiert als kleiner als fünf Millimeter – sind zu einem Synonym für eine globale Umweltkrise geworden. Sie sind überall: in den tiefsten Ozeangräben, auf den höchsten Berggipfeln, in der Luft, die wir atmen, und im Wasser, das wir trinken. Man unterscheidet zwischen primärem Mikroplastik, das bereits in kleiner Partikelgröße hergestellt wird (z.B. Granulate in Kosmetika oder industrielle Abrasivmittel), und sekundärem Mikroplastik, das durch den Zerfall größerer Plastikteile wie Flaschen, Tüten oder Fischernetze durch UV-Strahlung, mechanischen Abrieb und Witterungseinflüsse entsteht. Weitere bedeutende Quellen sind der Abrieb von Autoreifen, Fasern aus synthetischer Kleidung beim Waschen und der Zerfall von Beschichtungen.
Schätzungen zufolge gelangen jährlich Millionen Tonnen Plastikmüll in die Ozeane. Dort werden sie von Meeresorganismen, von Plankton bis hin zu großen Meeressäugern, mit Nahrung verwechselt oder passiv aufgenommen. Kleinere Lebewesen am Anfang der Nahrungskette akkumulieren die Partikel, und so reichern sie sich in höheren trophischen Ebenen an – ein Prozess, der als Biomagnifikation bekannt ist. Letztendlich landet Mikroplastik über Fisch, Meeresfrüchte, aber auch über Salz, Honig und sogar Bier auf unseren Tellern.
Gesundheitliche Risiken: Was macht Mikroplastik in unserem Körper?
Die wissenschaftliche Erforschung der direkten Auswirkungen von Mikroplastik auf die menschliche Gesundheit steht noch am Anfang, aber die bisherigen Erkenntnisse sind besorgniserregend:
- Physische Schäden: Sehr kleine Nanoplastikpartikel könnten theoretisch Zellmembranen durchdringen und in Organe gelangen. Studien im Tiermodell zeigten bereits Entzündungsreaktionen, Leberschäden und Störungen im Darm.
- Chemische Toxizität: Kunststoffe enthalten oft Additive wie Weichmacher (z.B. Phthalate), Flammschutzmittel oder Stabilisatoren. Diese können sich aus dem Plastik lösen und im Körper hormonähnliche (endokrine) Wirkungen entfalten oder krebserregend sein. Zudem können Mikroplastikpartikel wie Magnete für andere Schadstoffe im Wasser wirken (z.B. Pestizide, Schwermetalle) und diese konzentriert in den Organismus transportieren.
- Störung des Mikrobioms: Es gibt Hinweise darauf, dass Mikroplastik die Zusammensetzung und Funktion unserer Darmflora negativ beeinflussen könnte, was weitreichende Folgen für das Immunsystem und den Stoffwechsel hätte.
- Transportvehikel für Pathogene: Die Oberflächen von Mikroplastikpartikeln können von Mikroorganismen besiedelt werden, darunter potenziell auch krankheitserregende Keime, die so leichter verbreitet werden könnten.
Die Herausforderung besteht darin, die Langzeitfolgen einer chronischen Exposition gegenüber niedrigen Dosen von Mikroplastik und den damit verbundenen Chemikalien zu verstehen. Der direkte Kausalitätsnachweis zwischen einer bestimmten Mikroplastikexposition und einer spezifischen Erkrankung beim Menschen ist extrem komplex.
Rechtliche Labyrinth: Wer kann und muss zur Verantwortung gezogen werden?
Angesichts der ubiquitären Verbreitung von Mikroplastik und der Vielzahl an Quellen stellt sich die drängende Frage nach der rechtlichen Verantwortlichkeit. Das deutsche und europäische Recht bietet verschiedene Ansatzpunkte, die jedoch alle ihre spezifischen Hürden haben.
Das Verursacherprinzip als Leitgedanke
Das sogenannte Verursacherprinzip (oder „Polluter Pays Principle“) ist ein zentraler Grundsatz des Umweltrechts. Es besagt, dass derjenige, der eine Umweltbelastung verursacht, auch für die Kosten ihrer Beseitigung oder für die entstandenen Schäden aufkommen soll. Dieses Prinzip findet sich in verschiedenen Gesetzen wieder:
- Bundes-Immissionsschutzgesetz (BImSchG): Richtet sich primär an Betreiber genehmigungsbedürftiger Anlagen und deren Pflichten zur Vermeidung und Begrenzung schädlicher Umwelteinwirkungen. Für diffuse Einträge wie Reifenabrieb oder Faserfreisetzung ist es nur schwer anwendbar.
- Umwelthaftungsgesetz (UmweltHG): Begründet eine verschuldensunabhängige Haftung für Schäden, die durch Umwelteinwirkungen aus bestimmten, im Gesetz genannten Anlagen entstehen. Auch hier ist der Fokus auf klar abgrenzbare Anlagen.
- Umweltschadensgesetz (USchadG): Setzt die EU-Umwelthaftungsrichtlinie (2004/35/EG) um. Es verpflichtet Verantwortliche zur Sanierung von Schäden an der biologischen Vielfalt, Gewässern und dem Boden. Individuelle Gesundheitsschäden sind hier nicht der primäre Fokus, sondern die ökologische Wiederherstellung. Die Frage ist hier oft, wer genau der „Verantwortliche“ für einen diffusen Schaden ist.
Zivilrechtliche Ansprüche: Die Hürde des Kausalitätsnachweises
Der klassische Weg für Schadensersatz bei Gesundheitsschäden führt über das Zivilrecht, insbesondere über § 823 Abs. 1 BGB (Schadensersatzpflicht). Hier muss der Geschädigte nachweisen, dass
- eine Rechtsgutsverletzung (Gesundheit, Körper) vorliegt,
- diese durch eine Handlung oder Unterlassung eines anderen verursacht wurde (Kausalität),
- die Handlung rechtswidrig war und
- den Schädiger ein Verschulden trifft (Vorsatz oder Fahrlässigkeit).
Gerade der Kausalitätsnachweis ist bei Mikroplastik extrem schwierig. Wie soll ein einzelner Bürger beweisen, dass seine spezifische Erkrankung durch Mikroplastik verursacht wurde, das von einem ganz bestimmten Unternehmen (z.B. einem Verpackungshersteller, einem Textilkonzern oder einem Reifenproduzenten) in die Umwelt emittiert wurde? Die lange Latenzzeit vieler Erkrankungen, die Vielzahl der Expositionsquellen und die komplexen biologischen Prozesse machen dies nahezu unmöglich.
Eine weitere Möglichkeit könnte § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit einem Schutzgesetz sein. Wenn ein Unternehmen gegen ein Gesetz verstößt, das auch dem Schutz der Gesundheit Einzelner dient (z.B. bestimmte Umweltauflagen), könnte dies die Haftung erleichtern. Aber auch hier bleibt die Kausalitätsfrage bestehen.
„Klimaklagen“ als Vorbild? Die Grenzen der Verantwortungszuschreibung
In den letzten Jahren haben sogenannte „Klimaklagen“ für Aufsehen gesorgt, bei denen Kläger versuchen, Staaten oder große Emittenten von Treibhausgasen für die Folgen des Klimawandels haftbar zu machen. Ein bekanntes Beispiel ist die Klage des peruanischen Bergführers Saúl Luciano Lliuya gegen RWE.
Der Fall RWE vs. Lliuya: Ein Lehrstück in Sachen Umwelthaftung
Der Fall des peruanischen Bergführers und Kleinbauern Saúl Luciano Lliuya gegen den deutschen Energiekonzern RWE hat international hohe Wellen geschlagen und gilt als Präzedenzfall für Klimaklagen gegen Unternehmen. Lliuya lebt in Huaraz, einer Stadt in den Anden, die unterhalb eines Gletschersees liegt. Durch die voranschreitende Gletscherschmelze infolge des Klimawandels droht der See überzulaufen oder sein Damm zu brechen, was eine katastrophale Flutwelle für Huaraz zur Folge hätte.
Lliuyas Argumentation: RWE sei als einer der größten historischen CO2-Emittenten Europas mitverantwortlich für den Klimawandel und somit für die gestiegene Gefahr. Er forderte von RWE einen finanziellen Beitrag zu Schutzmaßnahmen (z.B. Dammverstärkung, Abpumpsysteme) in Höhe von rund 17.000 Euro. Dieser Betrag entsprach dem von Wissenschaftlern errechneten Anteil RWEs an den globalen historischen industriellen Emissionen (ca. 0,47%).
Nachdem das Landgericht Essen die Klage 2016 in erster Instanz abgewiesen hatte, weil es keinen direkten, linear nachweisbaren Kausalzusammenhang zwischen den Emissionen von RWE und der konkreten Gefahr für Lliuyas Haus sah, ging der Fall in die Berufung vor das Oberlandesgericht (OLG) Hamm. Das OLG Hamm schrieb Rechtsgeschichte, als es im November 2017 entschied, in die Beweisaufnahme einzutreten – ein Novum. Es erkannte an, dass ein großer Emittent prinzipiell für Klimaschäden anteilig haften könnte, wenn die Kausalität und die konkrete Bedrohung nachgewiesen werden können.
Am 28. Mai 2025, nach einer langen und komplexen Beweisaufnahme mit Gutachten und Ortsterminen in Peru, fällte das OLG Hamm sein Urteil (Az. I-5 U 15/17). Die Berufung wurde zurückgewiesen. Die Richter begründeten dies damit, dass zwar die grundsätzliche Mitverantwortung von RWE für den Klimawandel nicht bestritten werde, aber die konkrete, unmittelbare und erhebliche Gefahr einer Überflutung des Grundstücks des Klägers durch den Gletschersee innerhalb der nächsten 30 Jahre nach Auswertung der eingeholten Gutachten als nicht ausreichend wahrscheinlich angesehen wurde. Die wissenschaftlichen Gutachten stuften das Risiko einer Flutwelle, die das Haus des Klägers erreichen würde, als sehr gering ein.
Der Fall Lliuya vs. RWE, obwohl nicht direkt auf Mikroplastik bezogen, illustriert eindrücklich die enormen juristischen Hürden:
- Nachweis der spezifischen Kausalität: Auch wenn die allgemeine Verursachung (RWE emittiert CO2 -> CO2 trägt zum Klimawandel bei -> Klimawandel führt zu Gletscherschmelze) wissenschaftlich plausibel ist, muss der Kläger den direkten Strang bis zu seinem konkreten Schaden bzw. seiner konkreten Bedrohung darlegen und beweisen.
- Komplexität und Kosten: Solche Verfahren sind extrem langwierig, teuer und erfordern aufwendige wissenschaftliche Gutachten.
- Frage der Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit: Gerichte müssen abwägen, inwieweit ein einzelnes Unternehmen für globale Probleme herangezogen werden kann, auch wenn es nur einen Bruchteil dazu beigetragen hat.
Trotz der Abweisung im konkreten Fall hat das Verfahren Signalwirkung. Es hat die Debatte um die Verantwortung von Unternehmen für Klimafolgen befeuert und gezeigt, dass Gerichte bereit sind, sich mit diesen komplexen Fragen auseinanderzusetzen.
Andere Klimaklagen und ihre Bedeutung
Neben dem RWE-Fall gibt es weitere wichtige Klimaklagen: Die Klage von Greenpeace und Fridays for Future (u.a. „Neubauer et al.“) vor dem Bundesverfassungsgericht war erfolgreich und führte dazu, dass das deutsche Klimaschutzgesetz als teilweise unzureichend und generationenungerecht eingestuft und nachgebessert werden musste. In den Niederlanden zwang die Urgenda-Klage den Staat zu ambitionierteren Klimazielen. Diese Klagen richten sich oft gegen Staaten und deren Gesetzgebung oder Schutzpflichten, können aber indirekt auch den Druck auf Unternehmen erhöhen.
Lösungsansätze: Mehr als nur juristische Kämpfe
Die juristische Verfolgung von Verursachern von Umweltverschmutzung ist ein wichtiges, aber nicht das einzige Instrument. Um der Mikroplastikflut und anderen Umweltbelastungen Herr zu werden, bedarf es eines vielschichtigen Ansatzes.
Politische und regulatorische Maßnahmen
- Stärkere EU-weite und nationale Gesetzgebung: Die EU hat bereits Schritte unternommen, wie das Verbot von bewusst zugesetztem Mikroplastik in bestimmten Produkten (z.B. Kosmetika, Glitzer) unter der REACH-Verordnung. Notwendig sind aber umfassendere Verbote, strenge Grenzwerte für den Eintrag von Mikroplastik aus verschiedenen Quellen (z.B. Reifenabrieb, Textilfasern, Pelletverluste in der Industrie) und eine konsequente Umsetzung der EU-Wasserrahmenrichtlinie und der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie.
- Erweiterte Produzentenverantwortung (EPR): Unternehmen, die Plastikprodukte oder Produkte, die Mikroplastik freisetzen, in Verkehr bringen, müssen stärker in die Verantwortung für den gesamten Lebenszyklus ihrer Produkte genommen werden – von der Entwicklung über die Nutzung bis hin zur Entsorgung und dem Recycling.
- Förderung der Kreislaufwirtschaft: Weniger Einwegplastik, mehr Mehrwegsysteme, besseres Recycling und Design for Recycling sind unerlässlich.
Technologische Innovationen – Die Rolle der „Nerds“
Hier kommt die Tech-Welt ins Spiel! Ingenieure, Materialwissenschaftler, Datenanalysten und Softwareentwickler können entscheidende Beiträge leisten:
- Filtertechnologien: Entwicklung und Implementierung effektiverer Filter für Kläranlagen, Waschmaschinen und industrielle Abwässer, um Mikroplastikpartikel zurückzuhalten. Auch an Filtern für Straßenabläufe wird geforscht.
- Alternative Materialien: Forschung und Entwicklung von biologisch abbaubaren Kunststoffen, die tatsächlich in natürlichen Umgebungen zerfallen und keine schädlichen Rückstände hinterlassen. Hier ist Vorsicht geboten: Nicht alles, was „bio“ heißt, ist auch wirklich umweltfreundlich.
- Monitoring und Analytik: Einsatz von Sensortechnik, KI-gestützter Bilderkennung und Satellitendaten zur besseren Erfassung und Kartierung von Plastikmüll und Mikroplastikkonzentrationen in Gewässern und Böden.
- Reinigungstechnologien: Entwicklung von Systemen zur Entfernung von Plastikmüll aus Flüssen und Meeren (z.B. Projekte wie „The Ocean Cleanup“), wobei hier die Effizienz und die Vermeidung von Beifang kritisch betrachtet werden müssen.
- Citizen Science Projekte: Apps und Plattformen, die es Bürgern ermöglichen, Plastikverschmutzung zu dokumentieren und Daten für die Forschung zu sammeln (z.B. „Marine Debris Tracker“ oder lokale Initiativen).
Gesellschaftliches Umdenken und die Rolle von NGOs
Umweltorganisationen wie der WWF, NABU, Greenpeace oder die Deutsche Umwelthilfe spielen eine entscheidende Rolle, indem sie Aufklärungsarbeit leisten, politische Lobbyarbeit betreiben, Studien in Auftrag geben und rechtliche Schritte prüfen oder unterstützen. Sie erhöhen den öffentlichen Druck auf Politik und Wirtschaft.
Letztlich ist auch ein Wandel im Konsumverhalten jedes Einzelnen gefragt: Plastikvermeidung im Alltag, bewusste Kaufentscheidungen, Unterstützung nachhaltiger Unternehmen und die Teilnahme an Säuberungsaktionen können einen Unterschied machen. Das Bewusstsein für die Problematik ist der erste Schritt zur Veränderung.
Fazit: Ein Marathon, kein Sprint
Die Frage, wen man bei Schäden durch Umweltverschmutzung wie Mikroplastik verklagen kann, ist komplex und die juristischen Hürden sind hoch, wie der Fall RWE in Hamm erneut unterstreicht. Der direkte Nachweis der Kausalität für individuelle Gesundheitsschäden durch diffuse Verschmutzungsquellen bleibt eine enorme Herausforderung.
Dennoch sind rechtliche Auseinandersetzungen wichtige Katalysatoren für Veränderungen. Sie schaffen Präzedenzfälle, erhöhen den Druck auf Gesetzgeber und Unternehmen und schärfen das öffentliche Bewusstsein. Parallel dazu sind technologische Innovationen, strengere Regulierungen auf nationaler und internationaler Ebene und ein verändertes gesellschaftliches Bewusstsein unerlässlich, um der globalen Bedrohung durch Mikroplastik und andere Schadstoffe wirksam zu begegnen.
Für uns Nerds bedeutet das: Unsere Fähigkeiten in Datenanalyse, Technologieentwicklung und wissenschaftlicher Forschung sind gefragter denn je, um dieses vielschichtige Problem zu verstehen und innovative Lösungen zu entwickeln. Es ist ein langer Weg, aber einer, der für die Gesundheit unseres Planeten und unsere eigene Gesundheit entscheidend ist.