Berlin (dpa) – Der mehrjährige Streit um die Änderung des Wahlgesetzes zur Verkleinerung des Bundestages wird auch nach der Verabschiedung der jetzt von der Semaphor-Koalition vertretenen Reform weitergehen. Das zeigte sich bereits vor der für Freitag angesetzten Abstimmung über das Projekt im Bundestag.
SPD, Grüne und FDP forderten die Union erneut auf, die Reform zu unterstützen, damit das Wahlrecht eine breite politische Basis bekommt. Allerdings ist die Empörung der CDU und insbesondere der CSU groß. Die CSU werde dagegen „bis zur letzten Sekunde“ vorgehen, sagte ihr Vorsitzender Markus Söder in München nach einer Sitzung des Parteivorstands.
Ausgangslage
Bei den Wahlen 2021 wuchs der Bundestag auf 736 Abgeordnete an. Damit ist es größer denn je und eines der größten Parlamente der Welt. Grund ist das Wahlsystem mit seinen zwei Stimmen. Erstere wählt in jedem der 299 Wahlkreise direkt einen Abgeordneten. Die Zweitstimme entscheidet jedoch darüber, wie viele Sitze die Partei im Bundestag erhält. Gewinnt sie mehr direkte Sitze, als ihr nach dem Ergebnis des zweiten Wahlgangs zustehen, kann sie diese behalten. Für diese sogenannten Zusatzmandate erhalten andere Parteien im Gegenzug Ausgleichsmandate.
Reform
Das Ampelgesetz sieht eine leichte Anhebung der Zielgröße des Bundestages von derzeit 598 auf 630 Abgeordnete vor. Dies soll durch die vollständige Abschaffung von Überhöhung und Gleichstand erreicht werden. Es bleibt bei den bestehenden 299 Wahlkreisen. Für die Mandatsverteilung sollen nur noch andere Stimmen ausschlaggebend sein. Künftig kann es nach diesem Modell passieren, dass die Kandidaten, die ihren Wahlkreis direkt gewonnen haben, das Mandat nicht erhalten – nämlich dann, wenn ihre Partei nach dem Ergebnis der Zweitstimme Anspruch auf weniger Mandate hat, als sie direkt gewonnen hat .
Auch in Zukunft sollte jede Partei, die die Fünf-Prozent-Hürde nicht überschreitet, leer ausgehen. Denn es ist notwendig, die sog. zu löschen grundlegende Mandatsklausel. Ihrer Meinung nach zieht die Partei auch dann in den Bundestag ein, wenn sie weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen, aber mindestens drei Direktmandate erhält. Davon hat die Linke mehrfach profitiert – zuletzt 2021, als sie bei der Bundestagswahl nur 4,9 Prozent der Zweitstimmen erhielt.
Kritik
Die schärfste Kritik richtete sich gegen die Partei, die am meisten vom bisherigen Wahlgesetz profitierte: die CSU in Bayern. Gegebenenfalls werde es Verfassungsklagen geben, kündigte Söder an. „Abgeordnete werden nicht mehr gewählt, sie werden eingesetzt.“ Aber das Motto muss gelten: „Demokraten vor Bürokraten!“.
CDU-Generalsekretär Mario Czaja kritisierte zudem, dass die Union durch die Reformpläne überproportional viele Sitze verlieren würde, da sie in der Vergangenheit die Mehrheit der Wahlkreise gewonnen habe. Er sprach von „dem Wahlrecht, das eindeutig zu Lasten des Wahlkreissiegers geht“. Nach der Entscheidung des Bundestages werden die genauen Änderungen des Wahlgesetzes geprüft. Danach wird die Unionsfraktion in Karlsruhe über das Normkontrollverfahren entscheiden.
Auch Linkspräsidentin Janine Wissler rechnet mit einer Verfassungsklage. Die geplante Streichung der Klausel über die sog Das Grundmandat werde sicherlich zu einem Besuch in Karlsruhe führen, sagte sie in Berlin. Ihre Fraktion hat die Pläne allerdings noch nicht diskutiert und daher noch nicht über eine eigene Klage entschieden. Sehr problematisch ist auch der Ansatz, dass die Mehrheit nicht in allen Wahlkreisen zu einem Direktmandat führen soll.
Anfänger
SPD, Grüne und FDP weisen dagegen darauf hin, dass die eine Partei nicht besonders begehrt, die andere besonders benachteiligt sei. „Alle Parteien sind gleichermaßen betroffen, wie es bei einer funktional und demokratisch legitimierten Reduzierung der Abgeordnetenzahl der Fall sein sollte“, sagte der FDP-Vorsitzende der Bundestags-Wahlrechtskommission Konstantin Kuhle.
Sein Kollege von der SPD, Sebastian Hartmann, wies darauf hin, dass es sich um ein „einfaches, faires und transparentes Wahlrecht“ handle, das verfassungskonform sei. Katja Mast, die erste parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion, sagte: „Ich lade alle reformwilligen CDU-Mitglieder ein, sich in dieser Woche unserem Vorschlag anzuschließen.“ Hinter verschlossenen Türen bekundeten auch Kolleginnen und Kollegen von der CDU ihre Sympathie für die Attrappe der Ampeln.
Auf die mögliche Klage in Karlsruhe reagierten die Vertreter der Ampeln mit demonstrativer Gelassenheit. „Wer das Gericht anrufen will, wie einige bereits ankündigen, ist dazu herzlich willkommen und bis zur nächsten Bundestagswahl ist noch ausreichend Zeit dafür“, sagte Till Steffen, Vorsitzender der Grünen-Wahlrechtskommission.
© dpa-infocom, dpa:230313-99-930797/8