London (dpa) – Zwei Männer graben im Wäldchen umher, der andere klettert über Absperrstreifen. Und alles wird aufgezeichnet und ins Web gestellt, meistens auf Tiktok. Die Suche nach der vermissten Frau hielt Großbritannien wochenlang in Atem – lockte aber auch viele Beobachter in das verschlafene Dörfchen St. Michael ist auf dem Wyre.
„Social-Media-Nutzer spielen Privatdetektiv“, sagte Polizeidetektivin Rebecca Smith. Kürzlich wurde berichtet, dass ein 34-jähriger Mann festgenommen wurde, weil er unter anderem innerhalb der Barriere gefilmt hatte – der Mann reiste extra 210 Kilometer, um die Suche zu beobachten.
Zuschauerverhalten „verändert das Spiel“
„Wir hatten dort Spinner, Aasfresser, die Türklinken öffneten und durch Fenster starrten“, sagte der Gemeindevorsteher Michael Vincent dem Sunday Mirror. Der Bewohner Oliver Fletcher sagte der BBC, dass Fremde sein Haus gefilmt hätten und seine Großmutter sich nicht traute, das Haus zu verlassen. Für den ehemaligen Polizeichef Bob Eastwood ist das Verhalten moderner Beobachter in dem Fall ein „Game Changer“, der alles verändert.
Rückblende: Am 27. Januar bringt die 45-Jährige ihre Töchter zur Schule und führt dann ihren Hund am Fluss Wyre aus. Er loggt sich auf seinem Handy in ein geschäftliches Gespräch ein – und meldet sich nie wieder ab. Der Hund und das Telefon wurden gefunden, aber von der Frau fehlte jede Spur. Taucher durchsuchen den Fluss mehrmals. Je länger die Suche dauert, desto lauter werden die Spekulationen und immer mehr Beobachter strömen dazu. Im Internet kursieren Gerüchte. Schließlich war die Polizei gezwungen, sehr private Details aus den Krankenakten der vermissten Person herauszugeben. Nach gut drei Wochen wurde die Leiche der Frau im Fluss gefunden.
Im Dorf gibt es viel Ärger darüber, dass die modernen Beobachter ihre Spurensuche per Livestream übertragen. Aber das Interesse, vor allem auf Tiktok, war riesig. Innerhalb von drei Wochen wurden Videos mit dem Namen der vermissten Person als Hashtag 270 Millionen Mal aufgerufen. Die Plattform betonte: „Wir tolerieren kein Mobbing oder Belästigung auf Tiktok und entfernen Inhalte, die gegen unsere Richtlinien verstoßen.“
Können soziale Medien bei Ermittlungen nützlich sein?
Nicht alle waren sauer auf die ungebetenen Helfer. „Diese Berichte könnten jemanden dazu bringen, echte Informationen zu liefern“, sagte eine Mutter der BBC. Aber andere warnen vor großer Gefahr. Ex-Polizist Eastwood vergleicht Social Media mit „einem großen Biest, das nach Informationen giert“. Leute erfinden Dinge, Experten mischen sich ein, die keine Beweise haben.
Die gleiche Position vertritt die Gewerkschaft der Polizei (GdP). „Hobbydetektive, die zu Social-Media-Aktivitäten neigen, behindern polizeiliche Ermittlungen eher, als dass sie sie effektiv unterstützen“, sagte Alexander Poitz, stellvertretender Vorsitzender der GdP der Deutschen Presse-Agentur. Darüber hinaus könnten Postings in sozialen Medien falsche Verdächtigungen wecken und Unbeteiligte Stalking und Gefahren aussetzen.
Die Aufregung ist ein wenig vergleichbar mit dem Fall der seit Februar 2019 vermissten Rebecca. Das Bild der 15-jährigen Berlinerin war damals allgegenwärtig, die Umstände schienen mysteriös, der Fall wurde wochenlang öffentlich diskutiert . In Großbritannien war es das erste Mal, dass das ganze Land auch auf eine Social-Media-Suche geklebt wurde. Andererseits sind Hobbydetektive in den USA bereits ein bekanntes Phänomen. Selbsternannte Experten strömen zu YouTube und Tiktok, um Kriminalität und Vermisstenfälle zu kommentieren.
Viele wollen schlauer sein als die Polizei
Die meisten davon bezogen sich auf Anerkennung und die Steigerung des Selbstwertgefühls, sagte der Psychologe André Ilcin der dpa. Mit ihren Videos bewiesen sie, dass sie ganz nah dran waren an etwas Wichtigem – und hofften auf ein paar Sekunden Ruhm. Hinzu kommt die Angst, etwas Wichtiges zu verpassen. Besonders in den sozialen Netzwerken ist dieses Gefühl weit verbreitet – längst gibt es dafür einen Namen: FOMO, Fear of Missing Out. Das Internet spiele dabei eine große Rolle, sagte Ilcin, Mitglied im Berufsverband Deutscher Psychologen (BDP). Jeder kann im riesigen Resonator des World Wide Web gefunden werden, egal wie verrückt die Idee ist.
„In einigen Fällen gibt es einen Identitätswechsel“, sagte Iljčin. Sie benahmen sich wie Polizisten und glaubten, klüger als Ermittler zu sein, was zum Teil auf die schnellen Lösungen in Krimiserien im Fernsehen zurückzuführen war. „Das Langzeitstudium von Kriminalfilmen ersetzt weder die Ausbildung der Kriminalpolizei noch die jahrelange Erfahrung erfahrener Ermittler“, warnte GdP-Vizepräsident Poitz. Der Psychologe Ilcin verwies auf den sogenannten Dunning-Kruger-Effekt: Das eigene Bild von sich selbst entspricht nicht der Realität. Stattdessen wird der Jagdinstinkt geweckt, und die eigene Teilnahme dient als Schlag.
Dass sich die Polizei künftig stärker auf Tiktok-Detektive einstellen muss, dürfte klar sein. GdP appelliert an die Vernunft: „Lassen Sie die Polizei ihren Job machen. Warum? Weil sie es können.“
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